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Martin Hobi, Musik und Liturgie, im Gespräch mit dem Leiter Michael Wersin Das folgende Interview führte Martin Hobi mit Michael Wersin.
Erschienen in «Musik und Liturgie», Schweizerischer Katholischer Kirchenmusikverband (Hg.), Ausgabe Nr. 4/2023, ISSN 1600-8135

Musik und Liturgie: Lieber Michael, zum zweiten Mal nach 2022 halte ich ein Jahresprogramm in den Händen, das auf mich gleichsam wie ein «Füllhorn der Gregorianik» wirkt. Gibst du unseren Leserinnen und Lesern bitte kurz einen Einblick in die farbige Palette der Anlässe?

Michael Wersin: Die Liste der Aktivitäten der «Praxis-­ und Koordinationsstelle Gre­gorianischer Choral» sieht im laufenden Jahr 2023 ganz ähnlich aus wie im Jahr 2022: Zwei Führungen im Handschrif­tenlesesaal der Stiftsbibliothek, bei denen Franziska Schnoor Choralhandschriften zeigt, aus deren Inhalt eine kleine pro­fessionelle Schola unter meiner Leitung einzelne Stücke live vorträgt. Auf diesel­be Weise musikalisch gestaltet werden auch zwei Kathedralführungen in der Reihe «Kathedrale erleben», bei denen ich selbst die Doppelrolle des Führers und des Schola-­Leiters übernehme. Weiterhin gibt es einen Vortrag zum Thema Choral, für den ich diesmal Stephan Klarer als Referent gewinnen konnte. Am Samstag des ersten Adventswochenendes haben wir wieder einen «Choralsingtag für in­teressierte Laien», der in eine liturgische Aufführung der erarbeiteten Gesänge in der Vorabendmesse der Kathedrale mün­det. Ausserdem gibt es ein Konzert mit der professionellen «Cappella Choralis St. Gallen» unter meiner Leitung im Chor der Kathedrale, bei dem dieses Jahr Musik zum Martinsfest im Zentrum steht. Ferner finden wie stets in Vorarlberg Choralsing­tage statt, zu denen auch Teilenehmende aus der Schweiz herzlich eingeladen sind. Alle Daten finden sich auf der Website der Choralstiftung.

Und die Adressaten?

Als Adressaten sind grundsätzlich alle Menschen angesprochen, die sich für die Welt des gregorianischen Choralgesangs, für seine Geschichte und seine Praxis in­teressieren.

Ein Blick zurück: Die St.Galler Choral Stiftung besteht seit 2012. Was gab damals den Anstoss zur Gründung?

Ausgangspunkt war seinerzeit das grosse persönliche Interesse des privaten Stif­ters. Er hat einst selbst als Schüler der Katholischen Kantonssekundarschule St.Gallen, genannt «Flade», der dortigen Choralschola angehört und wollte mit seinem Engagement den Gesängen aus der goldenen Blütezeit des Klosters zu neuer Popularität verhelfen.

Ob du uns kurz den Weg der letzten knapp zwölf Jahre skizzieren würdest?

Von Anfang ihrer Tätigkeit an hat die Choralstiftung einen stets weithin in Umlauf gebrachten jährlichen Flyer he­rausgegeben, der mit der Zielsetzung ei­ner Vernetzung der ostschweizerischen Choral-­Landschaft entsprechende Aktivi­täten publik gemacht hat. Sie hat Choral­ Singwochenenden mit David Eben, Maria Walpen und Frater Gregor Baumhof fi­nanziell unterstützt. Und sie hat 2017 in Zusammenarbeit mit der Stiftsbibliothek St.Gallen die Buch­-Edition von 20 Notker­ Balbulus­-Sequenzen finanziert. Weitere ähnliche Aktivitäten sind auch für die Zu­kunft in Planung. Und schliesslich wurde 2021 zusätzlich die Beschäftigung einer Person beschlossen, die das Spektrum der Initiativen noch einmal massgeblich erweitert.

Somit war es auch klar, dass präzis du mit deinen menschlichen wie fachlichen Qualitäten für diese Stelle prädestiniert bist.

Den Anstoss dazu, mich konkret mit der Gründung und Leitung der «Praxis­- und Koordinationsstelle» zu betrauen, hat Domkapellmeister Andreas Gut gegeben, der wie sein Vorgänger Hans Eberhard Mitglied des Stiftungsrates und inzwi­schen auch Vizepräsident der Stiftung ist. Dass menschliche und fachliche Aspekte Anlass waren, mich ins Spiel zu bringen, darf ich hoffen. Ein wichtiger Punkt war ausserdem, dass ich durch meine anderen Tätigkeiten im St.Galler Klosterbezirk schon sehr gut ebendort vernetzt bin – eine unabdingbare Voraussetzung dafür, im Arbeitsalltag immer zielsicher an die richtigen Personen in allen zu berücksichtigenden Abteilungen (Stiftsbibliothek, DomMusik, Diözesane Kirchenmusikschule dkms, DomPfarrei, Kathedrale, Ordinariat, etc.) zu gelangen.

Wir sind mittlerweile in der Halbzeit der Anlässe 2023. Was hat dich besonders begeistert, überrascht oder allenfalls auch enttäuscht?

Auch wenn kalendarisch schon das ers­te Halbjahr 2023 zu Ende geht, ist hin­sichtlich der Aktivitäten noch nicht die Halbzeit erreicht, denn viele bedeutende Termine wie der erwähnte Vortrag am 30. September oder das Konzert im Chor der Kathedrale am 29. Oktober stehen noch bevor. Aber wenn ich das vergan­gene Jahr 2022 mit einbeziehe, kann ich ohne Zögern sagen: Enttäuschungen hat es überhaupt nicht gegeben, sondern eigentlich nur Erfolge. Nimmt man die Besucherzahlen als Massstab, dann waren etwa der Vortrag der Semiologin Inga Beh­rendt mit rund 60 Besuchern, der Choral­singtag im Dezember mit rund 50(!) aktiv Teilnehmenden und das erste Konzert der aus Profis für frühe Musik bestehenden, neu gegründeten «Cappella Choralis» im fast vollbesetzten Chor der Kathedrale sehr gelungene Veranstaltungen ganz un­terschiedlicher Art. Das Echo aus dem Publikum war jeweils durchweg positiv.

Gibt es für dich in dieser zweiten Jahreshälfte ein besonderes Highlight oder allenfalls auch mehrere, worauf du unsere Leserinnen und Leser gerne besonders hinweisen möchtest?

Grundsätzlich habe ich viel Freude an jedem Veranstaltungs-­Typ, aber im Blick auf meine eigene musikalische Tätigkeit freue mich natürlich ganz besonders auf das Konzert mit der «Cappella Choralis» am 29. Oktober: Hier stehen Antiphonen zum Fest des heiligen Martin, die sich auch in St. Galler Handschriften finden, im Zentrum. Sie werden einerseits in ei­nem Offiziums­-Abschnitt des Konzerts einstimmig erklingen, andererseits wer­den wir Teile der kaum bekannten «Missa de Sancto Martino» von Jacob Obrecht präsentieren, in der dieselben Antipho­nen kompositorischer Ausgangspunkt des vierstimmigen Vokalsatzes waren. Die Messsätze werden wiederum gre­gorianischen Gesängen zum Martinsfest gegenübergestellt. Alles in allem wird in diesem Konzert pars pro toto das dichte musikalische Netzwerk erkennbar wer­den, welches Europa im Mittelalter und in der frühen Neuzeit bereits durchzog.

Nun, die Planung für 2024 ist sicherlich bereits in vollem Gange. Dazu bist du, so vermute ich, auf mitorganisierende Mitarbeiter, Partnerinnen, Sponsoren und Trägerschaften angewiesen. Wie bist du oder seid ihr an dieser Stelle organisiert?

In finanzieller Hinsicht bin ich in der glücklichen Lage, auch 2024 wieder vom Stiftungsvermögen der Choralstiftung pro­fitieren zu dürfen, das von genannter pri­vater Seite sehr grosszügig eingelegt und auch schon mehrfach aufgestockt worden ist – eine komfortable Situation, für die man gar nicht dankbar genug sein kann. Gleichzeitig hat die Präsidentschaft der Stiftung aber auch bereits begonnen, sich um ergänzende finanzielle Unterstützung durch andere Stiftungen zu bemühen, da­mit das Angebot auch über die kommen­ den Jahre hinaus so komfortabel präsen­tiert und weiterentwickelt werden kann: Immerhin finden sämtliche direkt von der Praxis-­ und Koordinationsstelle verant­worteten Veranstaltungen, auch der Vor­trag und das Konzert, bei freiem Eintritt statt! Mit Blick auf das Arbeitsaufkommen kann ich sagen, dass die Hauptlast, auch die organisatorische, bei mir selbst liegt. Ich geniesse jedoch das Privileg, mit mei­nem Tun an die «DomMusik» angegliedert zu sein, deren Werbekanäle, Infrastruktur und Kontakte ich nutzen kann. Fachlich und organisatorisch steht mir ausserdem die Sängerin und Ensemble-­Leiterin Sabi­ne Lutzenberger punktuell zur Seite, sie ist auch Mitglied der «Cappella Choralis St. Gallen».

Und worauf dürfen wir uns für 2024 freuen?

Auf ein wieder buntes Angebot aus Kathe­dral­- und Bibliotheksführungen, Choral­singtagen, Vortrag und konzertanten Ver­anstaltungen. Und worauf ich mich freue: Weiterhin sehr viele am Choral interes­sierte Personen, mit und ohne Vorbildung. Gerne komme ich auch in Pfarreien oder andere Institutionen, um Choralwochen­enden abzuhalten. Diesbezüglich freue ich mich über jede Kontaktaufnahme – nicht nur aus dem katholischen, sondern auch aus dem reformierten Bereich.

Auch daraus ein ganz besonderes Highlight? Vielleicht auch zwei.

Ich freue mich besonders, beim alljähr­lichen Vortrag am 28. September 2024 den Tübinger Choralspezialisten Stefan Morent begrüssen zu können. Er wird u. a. über die virtuelle Rekonstruktion des Gozbert­-Münsters sprechen, mittels der er auf einer CD die «originale» Akustik des mittelalterlichen Kathedralraumes erlebbar machen wird. Und im Rahmen des St.Galler Kirchenmusikkongresses «KirchenMusikEntwicklung», der an Auf­fahrt 2024 beginnt, wird die «Cappella Choralis St. Gallen» am ersten Abend ein öffentliches Auftakt­-Konzert unter dem Titel «Mal Komplet(t) anders» im Chor der Kathedrale gestalten, an dem auch der neue St.Galler Domorganist Christoph Schönfelder beteiligt sein soll. Interaktiver Teil dieses Konzerts ist auch das gemein­same Singen der Komplet zusammen mit dem Publikum.

Herzlich danke ich dir für dieses Gespräch und wünsche deiner Arbeit mit den gregorianischen Anliegen weiterhin viel Erfolg. Martin Hobi, Musik und Liturgie